Die Schlüssel zwischen den Fingern, die Kopfhörer sind ausgeschaltet. Wer einem entgegen läuft, wird akribisch gemustert. Fällt er durch den „ist betrunken“-Test wird die Straßenseite gewechselt, das Lauftempo erhöht.
Für Frauen ist der nächtliche Heimweg jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung. Leere Straßen werden vermieden, um dunkle Ecken ein großer Bogen gemacht. Doch nur einer Sache kann man kaum ausweichen: der Fahrt mit der U-Bahn. Schon der Gang durch die menschenleere BVG-Station treibt vielen den Schweiß auf die Stirn. Sitzt man dann auch noch alleine im Waggon und eine Gruppe Männer steigt dazu, springt der Puls in die Höhe. Denn die eine Minute zwischen den Haltestellen kann lang sein, verdammt lang.
Genau deshalb wird bei der BVG gerade über eigene Waggons für Frauen diskutiert. Viele Menschen finden das lächerlich. Doch die Realität zeigt, das ist alles andere als lächerlich. Ein Erfahrungsbericht.
BVG: Der Heimweg wird zur Tortur
Es geschah in der Vorweihnachtszeit. Ich hatte über das Wochenende Besuch von Freunden. Nachdem wir den Tag über von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit gestreift sind, sollte es am Abend erst in eine Bar in Neukölln und von da aus in Richtung eines Clubs in Mitte gehen. Wir waren zu fünft, vier Frauen und ein Mann. Die Stimmung war ausgelassen – doch das änderte sich schlagartig als wir die BVG-Haltestelle an der Boddinstraße betraten.
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Schon von weitem hörten wir laute Musik, die zu einer Gruppe junger, offensichtlich sehr betrunkener Männer gehörte. Sie unterhielten sich miteinander, sangen mit. Wir dachten uns nichts dabei. Vorerst.
„Ich zeige dir die Welt“
Die Bahn sollte in zwei Minuten kommen als plötzlich zwei von ihnen an uns vorbei liefen. „Hey! Du hast echt sexy Beine!“, sagte einer von ihnen zu mir als er aus dem Nichts viel zu nah vor mir stehen blieb. Sein Atem roch nach Alkohol, sein Blick glitt über meinen Körper. „Komm mit mir mit, ich zeige dir die Welt, Prinzessin.“
Überfordert von der Situation sagte ich das Einzige, was mir in dem Moment einfiel: „Verpiss dich!“ Und dann geschah es.
Der junge Mann zog seine Hose herunter – mitten auf dem Bahnsteig der BVG. Plötzlich war er nackt, schwang seinen halb erigierten Penis mit kreisenden Hüftbewegungen vor mir. Sein Freund deutete sichtlich stolz auf sein Prachtstück: „Ist er nicht schön? Willst du ihn nicht mal in den Mund nehmen?“
Gefangen in der Schockstarre
In meinem Hals machte sich ein Kloß breit, mein Puls raste. Die Stimmung, die bis eben noch von Lachen geprägt war, schlug schlagartig um. Keinem war mehr zum Grinsen zumute, weder mir noch meinen Freunden. Zwischen dem ersten Spruch und dem Entblößen des Mannes waren gerade einmal 40 Sekunden vergangen. Wir wussten nicht, wie wir reagieren sollten. Wir waren so perplex von dem, was sich uns in dieser kurzen Zeit geboten hat. Wir waren in einer Schockstarre.
Der ellenlange Moment wurde erst unterbrochen als endlich die U-Bahn der BVG einfuhr. „Einfach nur weg hier, sofort!“, war mein erster Gedanke. Die Türen gingen auf, ich lief als erstes hinein. Anders als sonst setzte ich mich nicht auf den ersten freien Platz. Ich lief und lief und lief die Bahn entlang. „Einfach nur weg, einfach nur weg“, tönte es in meinem Kopf in einer nicht enden wollenden Schleife.
Meine Freunde gingen hinter mir. Um mich zu schützen, wie sie mir im Nachhinein sagten. Auch sie waren mit der Situation völlig überfordert. Der Erste, der reagieren konnte, war der einzige Mann in der Gruppe.
BVG: Auch zu fünft hatten wir keine Chance
Er stellte sich vor die Tür, denn der Exhibitionist und sein Freund hatten das erste „Nein“ wohl noch nicht ganz akzeptiert, wollten mit uns mitfahren. Seinen Penis in der Hand haltend versuchten er und sein Begleiter mit uns mitzukommen. Mein Bekannter versuchte sich ihnen entgegenzustellen, vergeblich.
Es dauerte nur eine Minute bis zur nächsten Haltestelle. Ich war nicht alleine, ich war in einer Gruppe. Und trotzdem stand vor mir ein erwachsener Mann, der sich in der U-Bahn der BVG einen runterholte. Nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Weder ich noch die anderen wussten, wie uns geschah. Wir hielten uns an den Händen, blickten auf den Boden.
Als sich die Türen wieder öffneten, sprangen meine Freunde und ich auf und verließen die Bahn ruckartig. Wir nahmen auf den Bänken Platz und schwiegen. Mehrere Minuten. Mehrere Minuten in denen wir verdauen mussten, was da gerade passiert war. Und das, obwohl wir nicht alleine waren, obwohl wir in einer Gruppe von fünf Personen unterwegs waren.
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Große Strecken fahre ich nachts seither nur noch mit dem Uber, die U8 vermeide ich völlig. Diese Situation war Warnung genug. Auch deshalb bin ich für Frauen-Waggons in der U-Bahn – und einen direkten Draht zum Fahrer. Wer diese Maßnahme für unsinnig oder gar übertrieben hält, sollte unbedingt einmal mit den Frauen in seinem Umfeld sprechen. Sie nach den Erfahrungen fragen, die sie gemacht haben, wenn sie nachts einfach nur nach Hause wollten, oder in eine Bar, oder sonst wo hin. Der Sinn dieser Waggons wird sich leicht erschließen.
Wie viel ein solcher Spezial-Waggon in dem Moment gebracht hätte, kann ich im Nachhinein zwar nicht mit Sicherheit sagen, doch zumindest eines hätte er geschaffen: das Gefühl eines Safe Spaces. Das Gefühl, mit seiner Angst nicht alleine gelassen zu werden.