Inzwischen haben sich in Berlin alle an den neuen Feiertag gewöhnt. Seit dem Jahr 2019 ist der Internationale Frauentag in Berlin ein gesetzlicher Feiertag. Viele Menschen gehen an diesem Tag für die Gleichstellung der Frau demonstrieren.
Sie beklagen eine Diskriminierung der Frau in zahlreichen Bereichen des Lebens vom Arbeitsplatz bis hinein in die eigene Partnerschaft. Eine, die in ihrem Beruf jeden Tag mit der Ungleichbehandlung von Frauen konfrontiert wird, ist die Berliner Anwältin und Autorin Christina Clemm. Sie vertritt Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, im Jahr 2023 veröffentlichte sie ihr Buch „Gegen Frauenhass“. Zum Internationalen Frauentag hat sie BERLIN LIVE ein Interview gegeben.
Frauentag in Berlin: Christina Clemm im Interview
Frau Clemm, zuletzt wurde der Frauentag in Berlin von Berliner Unternehmensverbänden in Frage gestellt. Warum brauchen wir ihn weiterhin?
Christina Clemm: Wir brauchen ihn weiterhin, weil wir lange keine Gleichstellung haben. Weil wir immer noch – und ehrlich gesagt auch verschärft – in patriarchalen Verhältnissen leben. Weil wir eine Ungleichverteilung haben, bei der Care-Arbeit. Wir haben Ungleichheit bei der Bezahlung und sehen jetzt auch wieder im Bundestag, die sehr ungleiche Verteilung der Mandate. Am meisten aber haben wir sie bei der Thematik der Gewalt, der geschlechtsbezogenen Gewalt. Da sieht man, wie massiv Männer immer noch ihre mächtigere Position ausüben und ausüben können.
Trotz dieser Menge an Punkten trifft man immer wieder auf Menschen die sagen: Es gibt längst eine Gleichberechtigung. Wie passt das zusammen?
Gar nicht. Gefühlte Wahrnehmungen sind schön und gut, besser sind aber Fakten. Und Fakt ist, wenn man sich die Zahlen ansieht, sowohl bei der Gewalt als auch eben bei der unterschiedlichen Bezahlung, bei der Ungleichverteilung der Care-Arbeit, der Armutsbetroffenheit etc. auch bei der Vertretung im Bundestag, dass es eben einfach nicht so ist.

Bei so vielen Problemfeldern. Wo müssten Gesellschaft und Politik als erstes ansetzen?
Ich denke, wir müssen uns endlich einmal darüber Gedanken machen, in welcher Gesellschaft wir zusammen leben wollen. Und das betrifft eben auch den Bereich der Gleichstellung. Es gibt ja zunehmende Tendenzen in einer sehr selbstbezogenen, egoistischen Welt zu leben. Diejenigen, die mehr Macht, mehr Geld, mehr Kapazitäten haben, gewinnen immer mehr. Wenn wir das aber nicht wollen, dann müssen wir endlich die Diskriminierungen in dieser Gesellschaft anerkennen und bearbeiten. Die gibt es zum einen aufgrund des Geschlechts, aber auch rassistische Diskriminierungen sind alltäglich.
Wir haben auch Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen, ökonomische Diskriminierungen etc. Das heißt, letztlich müssen wir eine gesamtgesellschaftliche Veränderung herbeiführen. Ein Schritt wären tatsächlich Gesetzesänderungen, wie etwa eine gerechte Steuerlastverteilung, die Abschaffung des Ehegattensplittings, Anpassung der Unterhaltsregelungen und anderes mehr. Beim Thema geschlechtsbezogener Gewalt im Speziellen geht es aber auch um das Thema Sichtbarkeit. Wir dürfen diese Gewalt nicht normalisieren, einfach hinnehmen. Wir müssen sie immer wieder thematisieren, und sinnvoll wären endlich gute Präventionsprogramme, die schon in der Erziehung, in den Kitas, in den Schulen beginnen.
Nun hat das Thema Gewalt den Bundestagswahlkampf zuletzt durchaus bestimmt. Allerdings wurde Gewalt meist mit dem Thema Migration verknüpft. Das hilft in Sachen Sichtbarkeit sicher nicht geholfen, oder?
Nein, das ist völlig absurd! Erstmal stimmt das ja statistisch nicht, dass das Problem die sogenannte eingewanderte Kriminalität sei. Hier wird Menschen Angst gemacht und eine einfache Lösung suggeriert, die aber nicht zutrifft. Das Problem der geschlechtsbezogenen Gewalt ist aggressive Männlichkeit, nicht die Herkunft der Täter. Für eine Frau ist immer noch der gefährlichste Mensch in ihrem Leben ihr eigener Partner, egal welcher Herkunft.
Clemm blickt kritisch auf die USA und Deutschland
Nun hat aber die Union, die mit diesem Thema einen erfolgreichen Wahlkampf gefahren hat, die Wahl gewonnen. Zuletzt ging dann ein Foto durchs Land, dass die sechs männlichen Unions-Spitzen an einem Tisch sitzend zeigt. Was bedeutet der Wahlsieg der Union für die Gleichberechtigung hier im Land?
Wir haben nicht nur hier, sondern weltweit einen großen Backlash. Sowohl in der Frage des Rassismus als auch in der Geschlechterfrage. Wenn man sich ein bisschen weiter umsieht, dann wissen wir, dass das Erstarken rechter Bewegungen immer einhergeht mit antifeministischen Bewegungen. Wir sehen das besonders deutlich gerade in den USA, dort z.B. bei der Verschärfung der Abtreibungsregelungen oder der unfasslichen Diskriminierung von Transgender Personen. Und das gibt es alles auch noch nicht ganz so drastisch hier.
Vorangetrieben wird das von der AfD. Aber dieser Antifeminismus, der funktioniert wie ein Kitt, der sich bis in die sogenannte Mitte der Gesellschaft verbreitet. Und da gibt es eben all diese Narrative: Die Frauen hätten es mit der Emanzipation zu weit getrieben, das Gerede von Gendergaga etc.. Oder auch die Stimmen aus der CDU, dass man Frauen mit der Quote keinen Gefallen tue. Das sei alles übertrieben. Zurück zur Familie, zurück in die konservativen Geschlechterbilder. All das sind äußerst bedenkliche Zeichen und die werden auch wieder zu noch mehr geschlechtsbezogener Gewalt führen.
Die Zahlen für Partnerschaftsgewalt sind in Berlin in den letzten Jahren angestiegen. Woran liegt das?
Da gibt es ganz viele Gründe dafür. Ich denke, die Gewalt steigt, weil wir uns in einer Krise befinden. Viele Menschen haben manifeste Probleme, haben Sorgen, sind verunsichert. Und da ist es immer noch am einfachsten, auf die eigene Frau einzuschlagen, um das mal so drastisch zu sagen.
Und wieso bekommen wir es als Gesellschaft nicht besser hin, Opfer zu schützen?
Wir haben viel zu wenig Kapazitäten bei Beratungsstellen, bei Frauenhäusern. Die Frauen haben schlechte Alternativen. Wo sollen sie denn hingehen? Der Wohnungsmarkt ist völlig eskaliert. Vielleicht finden Sie einen Frauenhausplatz, wenn sie Glück haben. Aber wie geht es dann weiter? Viele Frauen sind immer noch ökonomisch abhängig von ihren Partnern, gerade wenn sie gemeinsame Kinder haben. Und viele Frauen haben sehr berechtigte Angst davor, dass die Gewalt nach der Trennung noch weiter fortschreitet. Die meisten Femizide, die wir haben, finden nach der Trennung statt. Diese nachpartnerschaftliche Gewalt ist massiv und es gibt nicht genügend Schutz.
Woran fehlt es konkret?
Es gibt viel zu wenig Schutz für die Frauen und Arbeit mit den Tätern. Ich rede nicht nur von angemessenen Strafen, sondern auch einfach von Täterarbeit, von tatsächlichen Programmen, die dazu führen, dass Täter verstehen, dass sie das nicht tun dürfen. Es gibt viel zu langwierige Verfahren. Es läuft sehr viel schief, weil man das Thema nicht als höchste Priorität ansieht. Und das ist ja das Erstaunliche: Wir haben so massive Zahlen, wir gehen zum Beispiel davon aus, dass jede vierte Frau schon mal Gewalt in der Partnerschaft erlebt hat und jede Frau schon einmal in irgendeiner Form sexuell belästigst worden ist. Dennoch wird es normalisiert und hingenommen, statt zu sagen: Wir setzendas Problem ganz oben auf die Agenda, weil wir es in unserer Gesellschaft nicht dulden.
Christina Clemm: Uns fehlen Daten
Liegt das teilweise auch an fehlenden Daten?
Die Datenlage ist ein riesiges Problem. Wir stützen uns auch immer auf die Zahlen der Polizei, und das obwohl wir wissen, dass diese nur einen Bruchteil der tatsächlichen Delikte abbilden. Dafür braucht man Dunkelfelduntersuchungen. Die letzte große deutsche Dunkelfelduntersuchung ist aus dem Jahr 2004. Jetzt ist eine neue in Auftrag gegeben worden, die wird irgendwann rauskommen. Aber dass man es 20 Jahre lang nicht für notwendig erachtet hat, das Dunkelfeld zu erhellen, ist natürlich bezeichnend für eine Gesellschaft. Und auch ansonsten fehlt uns ganz viel Forschung.
Wir wissen viel zu wenig über Partnerschaftsgewalt. Wir wissen nicht, wie oft Täter schon in vorherigen Beziehungen gewalttätig geworden sind. Wir wissen nicht, welche Auswirkungen das auf Frauen und Kinder hat. Und auch sonst wird das Thema viel zu selten angepackt. Klar, jetzt am 8. März sind die Medien voll, aber sonst findet das kaum statt. Ich war zuletzt auf einem Fachtag in einer Kleinstadt. Da gab es danach ein Pressegespräch mit der Polizei. Die haben gesagt, dass sie Gewalt gegen Frauen nicht als Pressemitteilung herausgeben würden – aus Opferschutzgründen. Das führt dazu, dass wir über jeden Verkehrsunfall etwas lesen, über jeden Einbruchsdiebstahl, aber nichts darüber, dass die Polizei andauernd im Einsatz ist, weil häusliche Gewalt ausgeübt wird. So schützt der Opferschutz erneut die Täter, das darf nicht sein.
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Was macht es persönlich mit Ihnen und ihrem Sicherheitsgefühl, tagtäglich mit dem Thema Gewalt gegen Frauen beschäftigt zu sein?
Meine größte Sorge ist, dass einmal eine meiner Mandantinnen von ihrem Expartner getötet wird und ich vielleicht nicht alles getan habe, um sie zu schützen. Das ist schon sehr belastend.